Forum Verkehrswende am 14. September 2023
Alle Fragen – alle Antworten
Erweiterte und ausführliche Antworten zum Fragenkatalog des Forum Verkehrswende anlässlich der Podiums-Diskussion mit den Kandidaten zur Bürgermeisterwahl lesen Sie im folgenden.
Wie beurteilen Sie die Verkehrspolitik der Kreisstadt seit der Bürgermeisterwahl 2019: Womit sind Sie zufrieden, was hat sich verbessert und wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Wenn ich mir vor Augen führe, dass wir heute Entscheidungen aufgrund von Verkehrszählungen treffen, die mehr als 10 Jahre alt sind, dann lässt das schon Rückschlüsse zu auf die Dynamik der Verkehrspolitik in Groß-Gerau. Tatsächlich lieferte das Stadtentwicklungskonzept 2020, das aus dem Jahr 2010 stammt, bereits zutreffende Analysen. Abgearbeitet wurde davon in der Folge wenig. Und ein ganzheitliches Verkehrskonzept für die Stadt ist schon lange überfällig.
Wenn Sie das Kraftfahrzeugaufkommen, das Sicherheitsempfinden sowie die Kfz- und Fahrradparkmöglichkeiten in der Innenstadt betrachten: Welche Entwicklungen stellen Sie fest und wie bewerten Sie die Lage?
Die Innenstadt ist vor mehr als 20 Jahren mit dem Ziel der Verkehrsberuhigung umgebaut worden. Die Bundesstraße wurde herausgenommen und die Darmstädter Straße in der Stadtmitte neu definiert. Das war mit Blick auf die Entlastung der Innenstadt die richtige Entscheidung. Heute haben wir die Situation, dass die Herausnehme des Durchgangsverkehrs von Süd nach Nord zur Autobahn de facto nicht gelungen ist. Die täglichen Verkehrsstaus zeigen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Viele Autos auf schmalen Straßen sind natürlich immer auch ein Problem für Radfahrer. Die Selbstbewußten bleiben auf der Straße, die Vorsichtigen weichen auf die Fußgängerbereiche aus, was auch keine Lösung ist.
Derzeit mache ich mir große Sorgen, dass die anstehende Optimierung der Frankfurter Straße für den Durchgangsverkehr die Lage noch verschlimmern wird. Die Erfahrung zeigt, dass die Anpassung von Straßen an mehr Verkehr statt Entspannung eher das Gegenteil bewirkt, nämlich noch mehr Verkehr verursacht. Und eine Straße die aussieht wie eine Straße, wird benutzt werden, wie eine Straße.
Wohin geht die Entwicklung der Nahmobilität? Welchen Handlungsbedarf gibt es und wie muss eine zukunftsorientierte Stadt- und Verkehrsplanung aussehen? Welchen Beitrag können und sollten Bürgerinnen und Bürger dabei selbst leisten?
Wie sich Mobilität entwickelt, hat immer zu tun mit den vorhandenen Möglichkeiten. In den Großstädten beobachten wir seit vielen Jahren, dass öffentliche Verkehrsmittel gerne genutzt werden, weil die Autofahrt durch eine Innenstadt aufgrund der Verkehrssituation beschwerlich ist. Der öffentliche Nahverkehr ist kurz getaktet, da fällt der Umstieg nicht schwer. Ich verfolge mit Interesse, dass aber auch in den Kleinstädten weiter optimiert wird. Das ist gut so, es gibt aber noch deutlich Luft nach oben.
Experten sagen mir, dass die Probleme eher bei den Spitzenzeiten liegen, wenn zum Beispiel überall zur gleichen Zeit die Schule beginnt. Tatsächlich wird es sich lohnen, über alles nachzudenken, warum nicht auch über eine Entzerrung des Schulbeginns, wie über gewohnte Arbeitszeiten im Allgemeinen.
In Groß-Gerau werden rund 12 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt (aktuelle Angaben zur Verkehrsmittelwahl liegen nicht vor). Wodurch ließe sich der Anteil des nicht-motorisierten Verkehrs steigern? Was würde die Bereitschaft der Menschen erhöhen, für Erledigungen in der Kreisstadt das Auto häufiger stehen zu lassen und mehr zu Fuß zu gehen, mit dem Rad zu fahren oder Bus und Bahn zu nutzen?
Die Umstellung alter Gewohnheiten und den Wechsel auf andere Verkehrsmittel schaffen wir nicht mit Vorschriften und Verordnungen. Menschen ändern Ihr Verhalten, wenn sie Notwendigkeiten spüren oder etwas richtig gut finden.
Die Frage lautet also: Wie kriegen wir es hin, dass die Leute Lust bekommen, das Auto stehen zu lassen und mit dem Bus oder dem Fahrrad in die Stadt zu fahren. Wenn man an der Haltestelle steht und damit rechnen kann, das in den nächsten fünf Minuten ein Bus kommt, wäre das schonmal ein guter Anfang. Wenn ich mich mit dem Fahrrad auf der Straße sicher fühlen kann, wird das den einen oder anderen überzeugen können.
Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, die Autos in der Stadt abzuschaffen. Zumal wir – und das ist ein Thema für sich – einen Kulturkampf riskieren. Wir erleben heute schon eine Spaltung der Gesellschaft, bei der die eine Seite der anderen jeweils vorwirft, ihr Vorschriften machen zu wollen. Schon deshalb müssen wir es schaffen, untereinander wieder ins Gespräch zu kommen. Wir müssen reden, daran führt kein Weg vorbei.
Das Forum plädiert für Gleichberechtigung der Verkehrsmittel sowie eine Entschleunigung und Reduzierung des innerörtlichen Autoverkehrs: Durch lenkende Maßnahmen für den Kfz-Verkehr, die von der Bürgerschaft als sinnvoll, nachvollziehbar und entlastend empfunden werden. Das Forum tritt für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen des Rad- und Fußverkehrs sowie eine Stärkung des ÖPNV ein. Wie stehen Sie zu dieser Sicht?
Für Verkehrsregelungen in der Stadt sehe ich viel Potenzial im vielerorts schon praktizierten „Shared Space“-Konzept, dass auf der Straße Gleichberechtigung vorsieht. Damit nehmen wir alle Verkehrsteilnehmer in die Verantwortung und gegenseitige Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit im Straßenverkehr sind ja durchaus erstrebenswerte Ziele. In den Niederlanden gibt es gute Erfahrungen damit. Aber es kann schon sein, dass wir Deutschen uns schwer damit tun, wenn Dinge nicht bis ins letzte Detail geregelt sind.
Das Forum kritisiert den konzeptionellen Stillstand der Verkehrsplanung, was sich beispielhaft im Bereich Frankfurter Straße/Historisches Rathaus zeigt. Wie positionieren Sie sich zur beschlossenen Umgestaltung der Frankfurter Straße (neue Pflasterung und Trennung der Verkehre)? Wie stehen Sie zu verkehrswissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach Mischverkehrsflächen (in Abhängigkeit von durch kommunale Verkehrspolitik steuerbare Rahmenbedingungen) einen positiven Einfluss auf die Entschleunigung des Kfz-Verkehrs, die Einschränkung des Durchgangsverkehrs und eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität haben?
Die Umgestaltung vor dem Historischen Rathaus ist kontraproduktiv, weil sie die Frankfurter Straße für den Durchgangsverkehr optimiert und damit beschleunigen wird. Daran ändert auch der neuerdings verkündete Pflasterbelag nichts, denn aus einem ursprünglich verkehrsberuhigten Bereich wird eine Straße gemacht. Natürlich kann man der Auffassung sein, dass der Straßenbelag dem erhöhten Verkehrsaufkommen angepasst werden muss. Entscheidend ist aber der politische Wille: Wollen wir weniger Verkehr in der Innenstadt oder eine optimierte Zufahrt zu Autobahn mitten in der Stadt?
Das Stadtparlament hat rechtskräftig entschieden. Dennoch fehlt weiterhin vielen Menschen jedes Verständnis eine Maßnahme, die sich anfühlt, wie ein Schildbürgerstreich. Auch ich halte den Umbau für einen großen Fehler und wünsche mir, in einem letzen Appell an die Vernunft einen Drei-Punkte-Plan. Danach sind (erstens) die Bauarbeiten vorerst auszusetzen. Richtig ist, dass die Rechtslage komplex ist. Mit Experten für Verkehrsrecht (und/oder Verkehrswacht) müssen wir (zweitens) kurzfristige Lösungsmöglichkeiten prüfen um (drittens) eine rechtskonforme Lösung zu erhalten.
Tatsächlich wurden bisher keine ausgewiesenen Experten für Verkehrsrecht hinzu gezogen. Denn die Bewertung des Abschnitts ist alles andere, als eindeutig. Absurd wird es, wenn der Fraktionschef der Grünen die plötzlich eilige Forderung nach einem Mobilitätskonzept im Stadtparlament damit begründet, dass sich bei verkehrsführenden Maßnahmen Wechselwirkungen ergeben können. Doch was ist dann der Sinn des vorgezogenen Umbaus der Straße ohne die Einbettung in ein Mobilitätskonzept? Noch dazu für 350.000 Euro, die wir in der Verkehrsplanung ganz sicher besser einsetzen können.
Die Stadtverordnetenversammlung beschloss am 5. September 2023 die Beauftragung eines Mobilitätskonzeptes. Das Forum begrüßt diesen Beschluss und teilt seine Begründung und Absichten. Welche Ziele sollte das Mobilitätskonzept – auch hinsichtlich der Entwicklung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens in Groß-Gerau – anstreben und wie sehen Sie dabei die künftige Rolle des Kraftfahrzeugverkehrs?
Klar ist, dass wir ein Mobilitätskonzept für die ganze Stadt brauchen. Daran gibt es nichts zu rütteln. Aber ich bin nicht sicher, ob es zielführend ist, sofort in die Fremdbeauftragung zu gehen. Wichtiger wäre es doch, wenn wir uns hier in der Stadt erst einmal über die tatsächliche Ziele verständigen. Denn was nutzt uns letztendlich ein Konzept, das beispielsweise die Helwig- und die Rathenaustraße mit einbezieht, wenn sich die Anwohner danach in die Haare geraten, wer dabei jetzt besser oder schlechter weg gekommen ist. Die jetzt schnell noch einmal beschlossene Beauftragung sieht doch sehr nach eiligem Aktionismus vor der Wahl aus. Zumal vorher jahrelang nichts passiert ist.
Ich würde mir wünschen, wenn wir ein Mobilitätskonzept für unsere Stadt von Anfang an erweitert denken. Klimafragen spielen eine Rolle, versiegelte Flächen, Ampeltaktungen und der ruhende Verkehr. All das kommt auf uns zu und ich würde es nicht gut heißen, das jetzt aus dem Wahlkampf heraus überstürzt zu entscheiden.
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Weitere Informationen zum Thema finden Sie hier:
Das WIR-Magazin im Gerauer Land
(Beitrag vom 20. Mai, Verkehrswacht)